Vergessene Archäologie: Steinwerkzeuge so alt wie Dinos?

brandt-vergessene-archaeologieSteine, wie von Menschenhand bearbeitet: Immer wieder stößt man auf solche Funde, die mit ihren Formen und Bruchkanten an steinzeitliche Werkzeuge (Steinartefakte) erinnern. Einige dieser sogenannten Eolithen sind über 50 Millionen Jahre alt. Nur: Damals, im sogenannten Tertiär, gab es noch gar keine Menschen!

Muss also die Menschheitsgeschichte umgeschrieben werden, wie der Autor Michael BRANDT („Vergessene Archäologie“) meint? Keineswegs! – sagt der Kreationismuskritiker Martin NEUKAMM. In seinem Beitrag erklärt er anhand wissenschaftlicher Primärliteratur und zahlreicher Experten-Aussagen, warum gesplittertes Gestein aussehen kann wie Werkzeug. BRANDTs Argumentation wird dabei umfassend kritisiert. Es wird dargelegt, warum aus wissenschaftlicher Sicht an eine Rehabilitierung der Eolithen nicht zu denken ist. Mit 36 Abbildungen.

Eine Kurzversion des Beitrags ist in der Zeitschrift Skeptiker erhältlich.

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Die wichtigsten Argumente zusammengefasst: 

1. Der Steinzeitforscher Christian FUCHS („Steinzeit & Co.“) bemerkt, dass der größte Teil der von BRANDT in seinem Buch „Vergessene Archäologie“ präsentierten Fotografien und Zeichnungen nicht aussagekräftig sei. Wissenschaftlicher Standard sei eine Abrollung mit senkrechten Ansichten aller Flächen. Bei BRANDT hingegen fehlen meist wichtige Ansichten wie etwa die Lateralkanten, die der Fachmann beispielsweise für die Bestimmung der sogenannten Abbauwinkel(Winkel zwischen Schlagfläche und Abbaufläche) braucht. Folglich sei ohne strenge Inaugenscheinnahme der Originale (Autopsie) kein potenzielles Artefakt belegbar.

Besonders problematisch ist die Beurteilung fraglicher Artefakte aufgrund von (historischen) Zeichnungen. Zwar versuchen seriöse Zeichner, ein objektives Abbild zu schaffen, doch subjektive Komponenten sind unvermeidbar. Im Text wird ein besonders problematisches Beispiel aus BRANDTs Buch vorgestellt und diskutiert.

2. Nach BRANDTs Auffassung sind bestimmte Schlagmerkmale und Formen an Steinen hinreichend für die Artefaktbeurteilung. Die meisten Fachleute sind sich jedoch einig, dass die Merkmale zwar Anhaltspunkte liefern. Sie erlauben es aber in der Regel nicht, einfache kantenbearbeitete, atypische Steinwerkzeuge von Naturbruch sicher zu unterscheiden. Der Grund: Sämtliche Merkmale, die einfache Steinartefakte aufweisen, können auch an durch Naturbruch zustande gekommenen Abschlägen auftreten. So hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die sichere Unterscheidung zwischen einfachen Artefakten und Naturbruch zusehends als problematisch herausgestellt. Zahlreiche Wissenschaftler, die mit der Materie zu tun haben, gelangen zu dem Schluss, dass sich in der Grauzone zwischen Naturbruch und paläolithischen Artefakten keine objektiven Merkmale zur Unterteilung formulieren lassen. Oft erlauben nur subjektive Einschätzungen, abhängig vom Maßstab des Betrachters, eine Qualifizierung als Artefakt.

3. Menschlich wirkende Schlagmerkmale kommen auch an Stücken vor, die aufgrund anderer Merkmale als Artefakte ausscheiden (ADRIAN 1948, S. 23). Deshalb sind nicht nur die Schlagmerkmale bei der Merkmalsanalyse maßgeblich. Ein wichtigeres Beurteilungskriterium ist der sog. Habitus. So zeigt sich bei genauer Untersuchung, dass sich auch unter BRANDTs „Elite-Stücken“ zahlreiche Stücke befinden, die nur teilweise artefaktähnlich sind, als potenzielle Artefakte also nicht infrage kommen.

4. Der Steinzeitforscher Walther ADRIAN erbrachte im Rahmen seiner umfassenden Eolithenstudie Belege dafür, dass einfachste Steinwerkzeuge wie Schaber, Kratzer, Bohrer usw. unter bestimmten Voraussetzungen lokal gedrängt auf natürliche Weise entstehen. Seine Argumentation stützt sich auf die Tatsache, dass in norddeutschen Aufschlüssen der ungestörten Grundmoräne der Saale-Vereisung fast alle „Werkzeuge“ und Schlagmerkmale wie Schlagbuckel, Schlagflächenreste, Dorsalnegative und regelmäßige Kantenretuschen vertreten sind, denen Forscher bereits in den tertiären Inventaren RUTOTs begegnet waren.

Die norddeutschen Eolithen  scheiden jedoch aus mehreren Gründen als Artefakte aus:

  • Insbesondere fragile, artifizielle Abschläge haben bei längerem Transport im Eis oder nach mehrmaliger Umlagerung durch den Gletscher kaum Chancen, kenntlich zu bleiben. Vereinzelt ist dies zwar möglich. Aber aufgrund der Dispersion (weitläufigen Verstreuung) sowie aufgrund der zerstörerischen Kräfte im Innern der Gletscher werden die Spuren von anstehendem Material nachgewiesenermaßen sehr schnell gering. Das heißt: Je stärker sich artefaktähnliche Abschläge in den Grundmoränen konzentrieren, desto unplausibler ist, dass es sich um Artefakte handelt. Ausgerechnet dort bargen Wissenschaftler und Sammler Zehntausende von Eolithen, darunter viele Stücke, die sich nicht von Steinwerkzeugen unterscheiden. Die natürliche Herkunft der norddeutschen Eolithen lässt sich nicht vernünftig in Zweifel ziehen.  BRANDT versucht zwar anhand einer kaum anerkannten Studie zu zeigen, dass hochenergetische, glaziale Verlagerungen Artefakt-Merkmale oft intakt lassen (CHLACHULA & LE BLANC 1996). Aber diese Studie hat wenig Beweiskraft und wird von den meisten Wissenschaftlern als sehr problematisch eingestuft (DRIVER 2001; GILLESPIE et al. 2004, S. 619; HAYNES 2002, S. 55f; PECK 2011, S. 21f). Außerdem widerspricht deren Annahme allen bisherigen Erfahrungen der norddeutschen Glazialforscher, etwa den Geschiebeuntersuchungen von M. SAURAMO in Finnland und von G. LUNDQVIST in Schweden.
  • Wer annimmt, es handele sich bei den norddeutschen Eolithen um mittelpaläolithische Werkzeuge, kann das Fehlen entsprechender Leitformen im saaleeiszeitlichen Geschiebe nicht schlüssig erklären. Zum Beispiel entdeckten Archäologen am Fundplatz Markkleeberg bei Leipzig neben Schabern und Kratzern vor allem Faustkeile sowie Kerne und Klingen der Levallois-Technologie (Abb. 32). Der Habitus dieser Stücke spricht für ihre Werkzeugnatur.

Fazit: Entgegen BRANDT steht außer Frage, dass geologische Prozesse unter bestimmten Voraussetzungen artefaktähnliche Stücke lokal in größerer Zahl produzieren, obwohl wir noch nicht genau wissen, wie die Natur sie im Einzelnen hervorbrachte. Die Frage, ob dergleichen möglich war, ist logisch unabhängig von der Frage, wie es möglich war. Aus diesem Grund gilt ADRIANs Arbeit bis heute als Meilenstein in der Artefakt- bzw. Eolithenforschung.

5. Ein weiterer Grund für die Annahme, dass es sich bei den Eolithen um natürliche Bildungen handelt, sind die oft  unmerklichen Übergänge, die man an einigen Eolithen-Fundorten von typischen Eolithen bis zu Steinen mit ganz rohen und natürlich aussehenden Absplitterungen usw. antrifft. Zum Beispiel führt BRANDT eine Serie von „Doppelschabern“ vom Kent-Plateau an. Aufgrund der ähnlichen Form sieht er in diesen Fundstücken vom Kent-Plateau Werkzeuge aus Menschenhand. Doch es handelt sich um eine Auswahl. Ohne Selektion des Fundguts zeigen sich völlig andere Verhältnisse – von einer signifikanten Häufung bestimmter Artefaktformen kann nicht gesprochen werden.

6. Es gibt keinerlei merkmalsunabhängige Indizien für die Artefaktnatur der fraglichen Eolithen-Funde. Das Gegenteil ist der Fall:

  • Komplexe, flächenretuschierte Stücke wie Faustkeile, Blatt- und Stielspitzen (Pfeilspitzen), Levallois-Kerne, Cleaver usw., die aufgrund ihres Habitus eindeutig als Artefakte eingestuft würden, sind unter den Eolithen praktisch nie vertreten. Und wenn doch, dann in atypischer Ausprägung, ohne intentionellen Habitus und nie in einem Kontext, der eine menschliche Kultur belegt. Die überwiegende Mehrheit der Eolithen sind sehr einfache, kantenbestoßene Abschläge und derbe, chopperartige „Kerne“, die aufgrund ihrer Einfachheit keine belastbaren Schlüsse über ihre Herkunft zulassen.
  • Es gibt auch nicht einen einzigen Fundort, an dem das zur Diskussion stehende Flintmaterial einmal in einer intakten Kulturschicht vorkäme. Kein einziger Eolith wurde in einem Kontext geborgen, der eine menschliche Aktivität – unabhängig von grundsätzlich mehrdeutigen Schlagmerkmalen – überzeugend belegen würde.
  • Die eolithische „Kultur“ tritt vom Tertiär bis in die Bronzezeit hinein völlig unverändert neben hochentwickelten Industrien auf. Es ist zwar grundsätzlich möglich, dass primitive und höher entwickelte Kulturen nebeneinander bestehen können. Dass aber eine sich im Wesentlichen immer gleichbleibende eolithische Technik immerzu neben – und oft sogar räumlich eng – höher entwickelten Techniken fortbestanden haben sollte, kann selbst mit der weitgehendsten Voraussetzung der „eolithischen Mentalität“ nicht überzeugend nachgewiesen oder erklärt werden.
  • Die Eolithen finden sich nie an plausiblen Lagerplätzen von Homo, sondern fast durchweg in geologischen Terrains, die das natürliche Vorkommen von Feuerstein kennzeichnen. Das nahezu exklusive Auffinden der Eolithen in Zonen mit Zerreiß- oder Bruchstellen, in der Nähe von Küstengebieten, Gletschern, Flussufern usw. ist ein Argument dafür, dass natürliche Rollung und Pressung, Druck und Stoß, speziell an Feuersteinen Wirkungen hervorzubringen vermögen, die ihnen den Anschein von Artefakten verleihen. Auch wenn man annimmt, dass Menschen häufig an solchen Plätzen wohnten, finden sich unzweifelhafte Werkzeuge auch außerhalb dieser Terrains, weil sie die Menschen mitnahmen und an Jagdplätzen zurückließen.

Kurz: Solange nicht Kriterien erfüllt sind, die über Schlagmerkmale hinausgehen und menschliche Aktivitäten im Zusammenhang mit den Funden glaubhaft machen, kann der Artefaktcharakter der Funde nicht als bestätigt gelten. Es ist daher sinnlos, die evolutive Menschheitsgeschichte anhand unsicherer Frakturmerkmale von Steinen infrage zu stellen, die fast nur an natürlichen Feuersteinvorkommen gefunden wurden und eine umfangreiche Dislozierung erfahren haben.

7. Selbst wenn sich manche Eolithen als Artefakte erwiesen, spräche dies noch lange nicht für einen menschlichen Ursprung. Eine relativ aktuelle Studie (PROFFITT 2016) zeigt: Kapuzineraffen sind in der Lage, einfache Abschläge sowie Kerne und Schlagsteine mit Impaktmarken herzustellen, die absichtlich erzeugten Geräten von Homininen ähneln. Dieses Verhalten kann auch bei ausgestorbenen Affen verbreitet gewesen sein. Was die von BRANDT erwähnten „Primitivindustrien“ anbelangt, ist es schwierig bis unmöglich, einfache menschliche Artefakte von natürlichen Produkten oder Primaten-Erzeugnissen zu unterscheiden.

8. BRANDTs Vergleich von Eolithen mit ähnlich einfachen, anerkannten Artefakten, etwa mit Funden der Moustérien- und Oldowan-Kulturen ist irreführend: Auch wenn sich die Stücke ähneln, bedeutet das nicht, dass sich die Fundumstände ähneln und gleiche Entstehungsursachen naheliegen.

Bei der Absicherung der Oldowan-Funde beispielsweise ist weniger die Struktur der Steine als der Befund maßgebend: Zum einen sind die Steine an verschiedenen Fundstellen mit Überresten der Hominiden-Gattung Australopithecus und frühen Vertretern der Homininen vermengt. Zum anderen belegen Zusammensetzungen Abbausequenzen von bis zu 50 und mehr Abschlägen, und Schnittmarken an Tierknochen sprechen für den Gebrauch der Abschläge. Außerdem findet man im klassischen Oldowan Lagerplätze, dazu Haufen zerlegter Knochen, denen das Mark fehlt. Solche Belege für eine menschliche Kultur fehlen bei den Eolithen vollständig.

9. BRANDT behauptet pauschal, lokal gehäuftes Entstehen artefaktähnlicher Steine sei sehr unwahrscheinlich. Er kann diese These jedoch nicht überzeugend belegen. Teils stützt er sich auf Nichtwissen, teils auf einfachste Schüttel- und Rüttelexperimente, deren Aussagewert umstritten ist. Vor allen Dingen ignoriert BRANDT die erwähnte Tatsache, dass die von ihm zur ausreichenden Bewertungsgrundlage erhobenen Artefakt-Merkmale auch an Stücken auftreten, die aufgrund anderer Merkmale als Artefakte ausscheiden! Wenn das kein Indiz für die natürliche Entstehung der Artefakt-Merkmale ist, was dann?

10. Der Autor reduziert die natürliche Entstehung artefaktähnlicher Steine auf Zufallsfaktoren. (Er hat dazu sogar ein Zitat manipuliert, ohne dies kenntlich zu machen.) Der Steinzeitforscher Walther ADRIAN hat jedoch erklärt, warum bestimmte Merkmale wie regelmäßige Retuschen, einseitige Kantenbearbeitung usw. unter bestimmten Voraussetzungen auch natürlich entstehen. Sie werden teils von der Wachstumsstruktur des Flints begünstigt – eine Erkenntnis, die BRANDT ignoriert.

11. BRANDT verdreht die Beweislast: Anstatt nachzuweisen, dass die Merkmale der Eolithen dazu geeignet sind, eine (prä-) pliozäne Existenz des Menschen hinreichend sicher zu belegen, fordert er, die Archäologie solle „evidenzbasiert begründen“, dass „durch zufällige Naturprozesse häufig artefaktähnliche Steine entstehen“. Doch er erkennt die erwähnten Evidenzen gar nicht an. Stattdessen legt er den Schwerpunkt auf das Fehlen experimenteller Hinweise. So bemängelt er immer wieder, experimentell erzeugte Geofakte entsprächen nicht bis in die Details jenen Eolithen, die sehr gut gearbeiteten Artefakten gleichen. Damit legt er die methodologische Messlatte unrealistisch hoch an.

Naturprozesse lassen sich für gewöhnlich nicht im Freiland- oder Laborexperiment nachstellen. So wäre es unsinnig zu fordern, der Wissenschaftler möge die Kontinentaldrift oder die Entstehung des Erdmagnetfeldes, die Bildung von Fossilien, Gebirgen usw. experimentell zeigen. Im Idealfall lassen sich einzelne Aspekte der betreffenden Vorgänge simulieren. Die Prozesse im Ganzen sind aber nur indirekt (theoretisch) erschließbar. Dasselbe gilt im vorliegenden Fall. BRANDT setzt sich so dem Verdacht aus, gegenüber der modernen Wissenschaft eine Immunisierungsstrategie zu gebrauchen. Dazu schreibt der Steinzeitforscher Christian FUCHS:

„Nehmen wir an, BRANDT würde behaupten, der Neandertaler sei nicht ausgestorben, dann müsste das Erbgut sämtlicher Menschen untersucht werden, um diese These zu widerlegen. Hier zeigt sich deutlich, wie die umgekehrte Beweislast BRANDT & Co. in die Hände spielt. Würde BRANDT wissenschaftlich argumentieren, so müsste er den Beweis erbringen, dass der Neandertaler nicht ausgestorben ist, beispielsweise anhand der DNA-Analyse eines lebenden Menschen. Hier zeigt sich, warum es so schwierig ist, BRANDT auf wissenschaftlicher Ebene zu antworten.“

12. In den Naturwissenschaften spricht derzeit nichts dafür, dass im Tertiär Menschen lebten. Deshalb kann nicht vernünftig anhand der Struktur einfachster Naturprodukte auf deren Existenz geschlossen werden. Es ist ja nicht so, dass wir mit tertiären Überresten eines Automobils konfrontiert wären, die eine menschliche Industrie belegen würden. Vielmehr haben wir es mit einfachsten Naturprodukten zu tun! Trotzdem versucht BRANDT, seine Hypothese zu retten. Er behauptet, der Artefaktstatus der tertiären Steine würde hauptsächlich deshalb nicht akzeptiert, weil er den gängigen evolutionären Vorstellungen widerspricht.

Träfe dies zu, wären nicht nur grundlegende Erkenntnisse der Evolutionsbiologie falsch, sondern auch intersubjektiv gültiges Wissen aus der Archäologie, der Paläanthropologie und Genetik. Zum Beispiel findet man in Ostafrika Fossilien von Urmenschen, die sich in Gestalt und Kultur dem Menschen zusehends annähern, je jünger sie sind, angefangen mit Australopithecus afarensis (ca. 3,3–2,5 Mio. Jahre alt) über Homo habilis (ca. 2,5–1,9 Mio. Jahre) bis hin zum frühen Homo erectus (1,9–0,5 Mio. Jahre). Dies spricht dafür, dass es vor mehr als 2,5 Mio. Jahren zwar menschenähnliche Primaten gab, aber keine Menschen. Zudem kann man durch Auswertung genetischer Marker die Ausbreitungs- bzw. Besiedlungswellen von Homo sapiens rekonstruieren. Auch sie schließen eine frühere Existenz des Menschen in Europa aus.

All diese Befunde müssten falsch sein! Auch die meisten kernphysikalischen Datierungen wären nach BRANDTs Ansicht unhaltbar. Um seine Ansicht zu begründen, zitiert er beispielsweise den Eolithenskeptiker Hugo OBERMAIER (1908), der feststellt, dass der Formenkreis der Eolithen über die Jahrmillionen hinweg absolut gleich bleibt. Dies, so Obermaier weiter, „widerspricht jeglichem Gesetze von Entwicklung, das sich nicht bloß somatologisch, sondern auch intellektuell unfehlbar ausprägen müsste“ (S. 303f). Ein schwerwiegendes Argument gegen BRANDTs These! Doch er deutet es in seinem Sinne um und stützt damit seine Behauptung, dass die gesamte Erdgeschichte nur wenige Tausend Jahre umfasse. Dies ergibt aber nur dann Sinn, wenn als erwiesen vorausgesetzt wird, was es zu belegen gilt – nämlich dass es sich bei den Eolithen um menschliche Artefakte handelt. Der Zirkelschluss in BRANDTs Argumentation ist offensichtlich.

BRANDT übergeht, dass die Jahrmillionen des Tertiärs unabhängig von etwaigen tertiären Artefakten und populationsdynamischen Überlegungen belegt sind, nämlich durch Isotopen-Datierungen. Um sie infrage zu stellen, müsste der Autor essentielle Teilstücke und Methoden der Kernphysik, wie die sehr zuverlässige Isochronenmethode, angreifen, statt höchst umstrittene Annahmen über tertiäre Artefakte zu treffen. BRANDT kann dies weder leisten noch beabsichtigt er es. Zudem übersieht er etwas Wesentliches: Wären die vielen unabhängigen Erkenntnisse falsch, die das Bild der evolutionären Hominisation ergeben, wäre der Versuch, ein halbwegs einheitliches Bild von der Menschheitsgeschichte zu skizzieren, im Ansatz stecken geblieben.

13. Den wichtigsten Grund, warum die tertiären Eolithen aus Sicht des Autors menschengemacht sein müssen, kann man BRANDTs Buch leider nicht entnehmen: weil die Menschheit nach seinem evangelikalem Weltverständnis nicht evolvierte, sondern von einem Schöpfer, zeitgleich mit der Erde, vor etwa 6.000 Jahren ins Dasein gerufen wurde. Lange erdgeschichtliche Epochen ohne Spuren menschlichen Daseins würden sich in diesem Weltbild schlecht ausnehmen. Was liegt da näher, als eine historische Kontroverse aufzufrischen?

BRANDT vermeidet es peinlichst, den religiösen Hintergrund seiner Behauptungen auch nur anzudeuten. Dieser kann nur indirekt, über seine Autorschaft in evangelikalen Gruppierungen sowie über die Hartnäckigkeit, mit der er eine wenige Tausend Jahre junge Erde gegen erdrückende Widerlegungsinstanzen vertritt, erschließen. Und BRANDT versucht gar nicht erst, die im Vergleich zum „Eolithenproblem“ weitaus schwerwiegenderen Probleme seiner Weltdeutung auszubuchstabieren. Dies sind insbesondere jene, die bei der Stauchung der Menschheitsgeschichte auf wenige Tausend Jahre zutage treten. Würde er dies tun, würde offenbar, dass seine Schlussfolgerungen alles andere als eine Erklärung für die Herkunft der Eolithen liefern. Dann müsste man einrechnen, dass wir etwa 5.000 Jahre Menschheitsgeschichte haben, die durch Schrift und Bildwerke historisch datierbar ist.

Selbst wenn BRANDT ein Weltalter von 10.000 Jahren zugestehen sollte, blieben für die Vorgeschichte der Gattung Homo lediglich 5.000 Jahre. Das bedeutet, dass sich Homo, nachdem das erste Menschenpaar erschaffen wurde, in ein paar Dutzend Generationen über ganz Afrika und Eurasien ausgebreitet und überall seine alt- und mittelpaläolithischen Artefakte hinterlassen haben müsste. In ein paar Dutzend weiteren Generationen müsste er die jungpaläolithischen Artefakte über die ganze Erde verstreut haben. Nebenbei besiedelte Homo sapiens Australien und den amerikanischen Kontinent. Weitere Dutzende Generationen später haben wir die neolithischen Kulturen mit Ackerbau und Viehzucht. Ein paar Dutzend Generationen später kommen wir bei den ersten Flächenstaaten und bei der Geschichte im engeren Sinn an. Dieses Szenario ist unverträglich mit allem, was wir über die eigene Vorgeschichte wissen – weit über das hinaus, was wir bis hierher anführten. Ganz zu schweigen von den Inzuchtproblemen, die sich einstellen, wenn sich die Nachkommen eines Paares fortlaufend untereinander fortpflanzen.

In Mittel- und Westeuropa folgen mehrere gut unterscheidbare jungpaläolithische Kulturen aufeinander. Diese können im Zeitprofil des Kreationismus jeweils nur ein paar Generationen gedauert haben. Wie haben es unsere neolithischen Vorfahren geschafft, in rasantem Tempo Kulturpflanzen und domestizierte Tiere zu züchten? Dieser Prozess müsste ebenfalls in wenigen Generationen abgelaufen sein. Mit den Ergebnissen der Züchtungsforschung sind solche Annahmen unvereinbar. Und wie passen die durch die Genomik belegten Wanderungs- und Austauschprozesse der weltweit verstreuten Populationen von Homo überhaupt in ein solches Zeitraster?

Fazit: BRANDTs Buch zielt nicht auf wissenschaftliche Erkenntnis, sondern auf die Substitution aktuell gut gesicherten Wissens durch einen Schöpfungsmythos, den er aus dem von ihm bevorzugten Heiligen Buch ableitet, auch wenn er jegliche Andeutung dazu vermeidet.

Allgemeines Fazit:

Hinsichtlich des Plädoyers für die Wiederanerkennung der Eolithen kann das Buch „Vergessene Archäologie“ nicht überzeugen. Sein Autor wählt eine für sich allein betrachtet unsichere Diagnostik (die Ähnlichkeit tertiärer Steine mit einfachsten Steinwerkzeugen) und zieht daraus gewagte Schlüsse über das Alter der Menschheit. Weitaus zuverlässigere Argumente und Argumentcluster, die seine Schlüsse widerlegen, werden entweder ignoriert oder mit fragwürdigen Einwänden angegangen. Doch die Unverträglichkeit der Eolithen-Hypothese mit gut untermauerten Erkenntnissen der Archäologie, Paläanthropologie, Genetik usw. konterkariert die Möglichkeit einer positiven Rückbesinnung auf die These von der Existenz des Tertiärmenschen bereits im Ansatz.

Gänzlich verfehlt ist die Argumentation für eine nur wenige Tausend Jahre „junge“ Erde: Selbst wenn sich herausstellte, dass einige (oder alle) frühtertiären Eolithen menschengemacht wären, läge BRANDTs Weltsicht jenseits aller Vernunft. Widerlegt wäre dann zwar die aktuelle Sicht auf die Evolution des Menschen. BRANDTs Kurzzeit-Argumentation jedoch ist in einem Ausmaß problembehaftet, dass sie nicht als wissenschaftliche Alternative in Betracht käme.

Und so kommen wir auf die Ausgangsfrage zurück: Wurden die Eolithen überwiegend aufgrund weltanschaulicher Vorurteile der Forschungsgemeinschaft, die an der Evolutionstheorie nicht rütteln wolle, zu Geofakten erklärt? Nein, eine solcherart subjektive Validierung würde von der Forschergemeinschaft nicht toleriert. BRANDTs historisch überkommene Eolithen-Hypothese ist selber ein Beispiel dafür; sie krankt daran, dass sie in Bezug auf das gesicherte historische Wissen unserer Zeit nicht mehr glaubwürdig ist.

Das Buch „Vergessene Archäologie“ überspielt diese Tatsache systematisch. So spricht der Autor vom „Diktat des Vorgeschichtsparadigmas, wonach Menschen im Tertiär nicht gelebt hätten“ (S. 281). Warum „Diktat“? Da ein Spektrum von Befunden gegen die vorpliozäne Existenz des Menschen spricht, kann man schwerlich von einem „Diktat“ sprechen – man braucht dafür nicht einmal evolutionäre Vorannahmen zu bemühen. Es läge am Autor selbst, dieses „Paradigma“ mit guten statt mit schlechten Argumenten zu widerlegen.

Was ist in diesem Zusammenhang unter guten Argumenten zu verstehen? Die Antwort darauf kann man dieser Arbeit entnehmen: Fände BRANDT in den tertiären Schichten Europas Knochen von Homo, bearbeitete Tierknochen oder komplexe Kernsteine in verschiedenen Abbaustadien, wäre die Eolithen-Hypothese diskutierbar. Bürge er dort Rohsteine und Abschläge, deren Artefaktcharakter sich durch Zusammensetzung sichern ließe, wäre seine Kritik bedenkenswert. Fände er artefaktähnliche Steine in von Natur aus gesteinsfreien Sedimenten oder könnte er intakte Kulturschichten mit aktivitätsspezifischen Lokalitäten wie Killsites, Ateliers und Lagerplätze glaubhaft machen, würde die historische Diskussion neu befeuert.

Nichts von all dem trifft zu. Die Eolithen finden sich nie an plausiblen Lagerplätzen von Homo, sondern fast durchweg in geologischen Terrains, die das natürliche Vorkommen von Feuerstein kennzeichnen. Das nahezu exklusive Auffinden der Eolithen in Zonen mit Zerreiß- oder Bruchstellen, in der Nähe von Küstengebieten, Gletschern, Flussufern usw. ist ein Argument dafür, dass „natürliche Rollung und Pressung, Druck und Stoß, speziell an Feuersteinen Wirkungen hervorzubringen vermögen, die ihnen den Anschein von Artefakten verleihen“ (OBERMAIER 1908, S. 296).

Auch wenn man annimmt, dass Menschen häufig an solchen Plätzen wohnten, finden sich unzweifelhafte Werkzeuge auch außerhalb dieser Terrains, weil sie die Menschen mitnahmen und an Jagdplätzen zurückließen (HOFFMANN 2009, S. 28). Es ist sinnlos, die evolutive Menschheitsgeschichte anhand unsicherer Frakturmerkmale von Steinen infrage zu stellen, die fast nur an natürlichen Feuersteinvorkommen gefunden wurden und eine umfangreiche Dislozierung erfahren haben.

Links:

http://www.ag-evolutionsbiologie.net/pdf/2017/vergessene-archaeologie.pdf

http://www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2017/vergessene-archaeologie.html