Graduelle Evolution der Blatt-Mimikry

Der Schmetterling Kallima paralekta sieht mit geschlossenen Flügeln aus wie ein totes Blatt. Wie entstand diese Tarnung durch Nachahmung (Mimikry) im Lauf der Evolution? Schritt-für-Schritt oder doch in einem großen Sprung?

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Flügel v. K. paralekta (unten rechts) und verwandte Arten. Suzuki et al, Fig 1 (Ausschnitt) , CC-BY

Wieso die Blatt-Imitation für heute lebende Kallima-Arten vorteilhaft ist, liegt auf der Hand. Der Schmetterling wird nicht so leicht gefressen und hat daher Chancen, mehr Nachkommen in die Welt zu setzen als das auffällige Tier vom Nachbarbusch, das gerade von einem Fressfeind verspeist wird.

Kniffliger ist schon die Frage, auf welchen evolutionären Wegen diese spezielle Mimikry entstand. Denn Vorfahren von K. paralekta oder K. inachus sahen aus wie ganz normale Schmetterlinge, ebenso wie viele heute lebende, nahe verwandte Arten anderer Gattungen.

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K. inachus. Suzuki et al, CC-BY

Wie also soll man sich eine schrittweise Evolution vom 08/15-Flattertier zum Blatt-Imitator vorstellen? Es ist nicht unbedingt einsichtig, wieso die ersten Übergangsformen unterm Strich einen Überlebensvorteil gehabt haben sollten, wenn sie höchstens ein ganz klein wenig wie ein Blatt aussahen. Und in der Tat sind Einwände gegen die These der Blatt-Mimikry als Produkt schrittweiser Evolution fast so alt wie Darwins Buch „The Origin of Species“.

Was scheinbar für die Kritiker einer graduellen Evolution dieses Merkmals spricht: Evolution ist blind für zukünftige Möglichkeiten und kann nicht „wissen“, dass viele Generationen später täuschend echt aussehende Blatt-Imitate aus Schmetterlingsflügeln entstehen könnten, über eine Reihe von Zwischenformen. Anders als ein Bankberater vergibt die natürliche Selektion keinen Kredit auf die Zukunft. Wie also ist die Evolution der Blatt-Mimikry bei Kallima abgelaufen? Vielleicht doch ohne Zwischenformen, geradezu „sprunghaft“? Takao Suzuki und zwei Kollegen vom National Institute of Agrobiological Sciences (Japan) haben dazu jetzt interessante Daten vorgestellt (BMC Evolutionary Biology 2014, 14:229  doi:10.1186/s12862-014-0229-5) . Bevor wir uns die ansehen aber erst ein

kurzer Exkurs:

Wir befinden uns auf einem heißen Pflaster mit einer langen Geschichte, die zu den kontroversen Ideen Richard Goldschmidts zurückgeht. Goldschmidt (1878 – 1958) behauptete, dass dramatische Umwandlungen der Morphologie sprunghaft, von einer Generation zur nächsten, entstehen könnten – „Hopeful Monsters“ ist seitdem der einprägsame Begriff für Goldschmidts gewagte Hypothese. Und die Blatt-Mimikry in Schmetterlingen wie Kallima war eines seiner Argumente für die Existenz solcher „Makromutationen“ (siehe Goldschmidt 1945).

Mainstream-Evolutionsbiologen hatten schon immer dagegen gehalten, dass große Sprünge – Makromutationen  –  kaum zu erfolgreichen Anpassungen führen könnten. Der Populationsgenetiker Ron Fisher bemühte dazu folgendes Bild (hier vereinfacht wiedergegeben): Man stelle sich vor, man sitzt an einem Mikroskop und sieht nur verschwommene Umrisse. Wie stellt der Beobachter das Bild scharf? Einmal ruckartig und grobschlächtig am Fokussier-Rad schrauben wird nicht zum Ziel führen. Stattdessen bewegt man das Rad so vorsichtig wie möglich und überprüft laufend, ob das Bild schärfer oder unschärfer wird.

Ganz ähnlich kann man sich den graduellen Prozess der Anpassung durch natürliche Selektion vorstellen, so wie ihn Fisher und Kollegen mathematisch formuliert hatten.

Noch heute ist die Frage, ob Evolution gelegentlich Sprünge macht, kleine oder auch größere, durchaus nicht ausdiskutiert – wenn auch nicht in der extremen Form Goldschmidtscher „Hopeful Monsters“.

Aber zurück zu den Schmetterlingen.

Takao Suzuki und zwei Kollegen haben sich die alte Frage, ob die Blatt-Mimikry in Kallima über Zwischenformen evolvierte, jetzt mit Hilfe neuer Methoden vorgeknöpft. Sie kombinierten dabei eine morphologische Analyse der Schmetterlingsflügel mit Daten eines molekularen Stammbaums. Das Ergebnis vorweg: Ihrer Analyse zufolge ist eine Schritt-für-Schritt-Evolution tatsächlich das wahrscheinliche Szenario. Die Blatt-ähnliche Morphologie der Flügel entstand jedenfalls nicht auf einen Schlag. Goldschmidt wäre wohl enttäuscht.

Wie kamen die Autoren zu diesem Ergebnis? Ihre Analyse besteht im Wesentlichen aus drei Schritten:

1. Den Grundbauplan erkennen

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Homologe Merkmale. Suzuki et al, CC-BY

Eine Schwierigkeit bestand darin, homologe ( = auf gemeinsame Vorfahren zurückgehende) Merkmale in den „umgebauten“ Schmetterlingsflügeln zu identifizieren. Suzuki und Kollegen nahmen dabei Bezug auf den „Nymphalid Ground Plan“ (NGP), ein etabliertes System aus Merkmalen, die als Referenzpunkte für die vergleichende Morphologie der Schmetterlinge dienen. Diese Merkmale sind z.B. Kreuzungspunkte zwischen bestimmten Adern, oder Lage und Orientierung der homologen „Augenflecken“ auf den Flügeln. Für ihre Analyse wählten die Autoren elf Merkmale aus, die sie auf den Flügeln von  Kallima und 45 nahe verwandten Arten identifizieren konnten (siehe Abb. links)

2. Merkmalsveränderungen kodieren

Im zweiten Schritt erstellen sie eine Tabelle dieser Merkmale und hielten für jedes Merkmal in jeder der 45 untersuchten Arten fest, ob es in Bezug auf den NGP im ursprünglichen oder im abgeleiteten Zustand vorliegt.

3. Merkmalsevolution rekonstruieren

Schließlich nahmen die Autoren einen molekularen Stammbaum zu Hilfe und rekonstruierten mit statistischen Methoden die wahrscheinlichen Merkmalszustände dieser elf Merkmale in den Vorfahren der heutigen Kallima-Arten. Im molekularen Stammbaum sind ja nur heute lebende Arten vertreten. Interessant sind aber für die spezielle Frage der Evolution der Blatt-Mimikry gerade die Merkmale der Vorfahren an den „Knoten“ des Stammbaums. Gab es dort irgendwo einen „Sprung“ oder sehen wir eine Abfolge von Übergangsformen? Um die wahrscheinlichen Merkmalskombinationen der Kallima-Ahnen zu errechnen, setzten die Autoren einen von Andrew Meade und Mark Pagel entwickelten Algorithmus („BayesTraits“) ein –  wie der genau funktioniert, wäre ein Thema für einen eigenen Beitrag. Dabei kam jedenfalls heraus, dass eine Reihe von Übergangsformen (mindestens vier) zwischen den „normalen“ Schmetterlingsflügeln und den Blatt-Imitierern liegen.

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Zwischenformen der Blatt-Mimikry. Suzuki et al. CC-BY

Die Schönheit dieser Studie liegt darin, dass sich die Autoren ein klassisches „Problemtier“ vorgeknöpft haben und eine alte Frage mit einer Kombination aus sorgfältiger Morphologie, Molekularbiologie und state-of-the-art-Statistik angingen. Aber welche Anpassungsvorteile hatten nun diese „intermediären“ Schmetterlinge, die noch nicht wirklich wie ein Blatt aussahen? Zukünftige Studien aus Ökologie und Verhaltensbiologie können hoffentlich auch zu diesem Teil des faszinierenden Puzzles der Blatt-Mimikry in Kallima beitragen. Die Kallima-Arten sind interessant wegen ihrer wissenschaftshistorischen Bedeutung. Neben Darwin, Alfred Russel Wallace und dem oben erwähnten Goldschmidt äußerten sich auch viele andere Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderst zur Blatt-Mimikry in dieser Gattung.  Aber leider beschäftigen sich heute nur wenige Forscher damit.

Bei anderen Schmetterlingsarten ist man aber schon einen Schritt weiter. Insbesondere die Gattungen Heliconius und Bicyclus haben sich als nützliche Modelltiere etabliert, um die Entstehung neuer Morphologien sowohl im Feld als auch im Labor zu untersuchen, bis hinunter auf die  molekulare und entwicklungsgenetische Ebene (siehe z.B. die Übersichtsarbeiten von Joron et al.  und Saenko et al.). Robert Reed und Kollegen ist es vor einiger Zeit beispielsweise gelungen, die Beteiligung von Varianten eines Entwicklungsgens an der Färbung mimetischer Heliconius-Formen nachzuweisen (PNAS, doi: 10.1073/pnas.1110096108). Und die Forscher des  Heliconius Genom-Projekts spürten an der Mimikry beteiligte Gene in nahe verwandten Arten auf und zeigten, dass diese durch Hybridisierung verbreitet werden können (Nature 2012  doi: 10.1038/nature11041 ). Der Biologe mit Sonnenhut und Insektenkäscher ist das Klischee schlechthin – aber für molekularbiologisch versierte Schmetterlingsjäger brechen spannende Zeiten an.