Experimentelle Evolution der Vielzelligkeit

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C. reinhardtii Zell-Cluster (c) Ratcliff et al. , CC-BY-NC

 

Der Übergang von Einzellern zu vielzelligen Lebewesen ist ein markantes evolutionäres Ereignis. Markant, aber nicht einzigartig, denn Vielzeller sind mehrere Male unabhängig voneinander aus einzelligen Vorfahren hervorgegangen. Und selbst in Labor-Experimenten kann man die ersten Schritte der Evolution der Vielzelligkeit in Echtzeit beobachten.

Wie kann der evolutionäre Prozess aus Mutation und Selektion dazu führen, dass die Nachkommen von Einzel-Zellen plötzlich Verbände bilden? Um diesen dramatischen Übergang schlüssig zu erklären, müssen Evolutionsbiologen einen konkreten Vorteil der beginnenden Vielzelligkeit aufzeigen – eine Situation also, in der einfache, recht unorganisierte Zellverbände mehr lebensfähige Nachkommen haben als Einzeller der gleichen Art.

Diverse Arbeiten aus dem Forschungszweig der experimentellen Evolutionsbiologie zeigen jedenfalls, dass Einzeller unter entsprechenden Umweltbedingungen den Übergang zu einer einfachen Form der Vielzelligkeit bewerkstelligen können. Beispielhaft dafür stelle ich heute ein Arbeit aus dem Labor von William Ratcliff vor, erschienen in Nature Communications (2013, DOI: 10.1038/ncomms3742).

Neue Merkmale evolvieren im Labor

Die Methode, mit der experimentelle Evolutionsbiologen arbeiten, ist ebenso simpel wie genial, setzt aber Geduld voraus. Die Forscher züchten ihre jeweiligen Modell-Organismen, meist Hefen, Bakterien oder Algen, über viele Generationen hinweg unter genau festgelegten Bedingungen. Der Prozess aus spontaner Mutation und Selektion nimmt dann seinen Lauf. So entstehen eventuell neue Merkmale in den Laborpopulationen – und zwar ganz ohne direktes Eingreifen der Wissenschaftler. Der Experimentator schafft lediglich durch die Rahmenbedingungen des Experiments einen entsprechenden Selektionsdruck, bleibt aber ansonsten passiver Beobachter der evolutionären Ereignisse.

Einer der möglichen Vorteile einer „primitiven“ Vielzelligkeit für Algen ist schlicht der Größenvorteil. Vielzeller können beispielsweise kleinen Räubern Probleme machen, die Einzeller mühelos verschlingen, aber einen Zellklumpen verschmähen. Aber ist ein derartiges Szenario realistisch?

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Evolvierte Stämme (links) sedimentieren schneller als der Ausgangsstamm (rechts) (c) Ratcliff et al. , CC-BY-NC

Um konkret das Potential zur Evolution von Vielzelligkeit in der Alge Chlamydomonas reinhardtii zu untersuchen, dachten sich die Forscher um Ratcliff ein simples Experiment aus. Nachdem die Algen Zeit hatten, sich bei optimalen Bedingungen zu vermehren, wird das Kulturgefäß zentrifugiert, also recht kräftig geschleudert. Die Zentrifugalkraft ist so gewählt, dass sie gerade ein wenig zu schwach ist, um Einzelzellen effektiv zu konzentrieren; Zellverbände aber reichern sich aufgrund ihrer größeren Masse schnell im Sediment an. Jetzt kommt die Selektion ins Spiel: Nur Organismen aus der untersten Schicht des Reagenzglases bilden die Startpopulation für den nächsten Durchgang des Experiments. Etwaige Zellverbände, so sie denn entstehen, haben also einen Selektionsvorteil. Diesen Vorgang aus Anzüchten, Sedimentieren und Selektieren wiederholten die amerikanischen Wissenschaftler über Monate hinweg insgesamt 73 mal, entsprechend etwa 315 Algen-Generationen.

Das Ergebnis der Studie? In der Tat fanden die Evolutionsbiologen eine evolvierte Chlamydomonas-Linie, die primitive Zellverbände bildet und sich folglich am Boden der Gefäße anreichert. Die evolvierten Algen schleusen vermehrt Material aus der Zelle aus, das die sogenannte ‚extrazelluläre Matrix‘ bildet. Die extrazelluläre Matrix wirkt wie Kleber, nach der Zellteilung bleiben Tochterzellen aneinander haften und bilden Verbände aus bis zu mehreren hundert Algenzellen.

Zweiphasiger Lebenszyklus

Interessant wurde die Sache insbesondere, als sich die Wissenschaftler genau anschauten, wie sich so eine Zellansammlung vermehrt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt lösen sich bewegliche Einzelzellen ab, deren Tochterzellen dann selbst wieder einen neuen Zellverband gründen. Unter den Selektionsbedingungen des Experiments evolvierte die Alge also einen zweiphasigen Lebenszyklus. Eine Einzelzelle gründet einen mehrzelligen Verband, von dem sich dann wieder Einzelzellen abspalten – und immer so weiter.

Was ist neu an dieser Studie? An Organismen wie der Bäckerhefe hatten Ratcliffs Leute und andere Forscher schon zuvor das Auftreten von Vorstufen der Vielzelligkeit beobachtet. Auch molekulare Details konnten frühere Studien aufklären und ganz konkret diejenigen DNA-Mutationen und Mechanismen aufzeigen, die zur Etablierung eines Zellverbands beitragen. Über molekulare Mechanismen erfahren wir in der Chlamydomonas-Studie dagegen leider (noch) nichts – insofern bleiben einige Fragen offen, bei denen man in ähnlichen Versuchen mit Bäckerhefe schon weiter gekommen ist (siehe z.B. hier).

Allerdings gab es auch Einwände gegen diese früheren Hefe-Versuche. Nahe Verwandte der Bäckerhefe bilden nämlich unter natürlichen Bedingungen so etwas Ähnliches wie vielzellige Verbände, die Zellen nehmen jedenfalls physische Kontakte zueinander auf. Kritiker wenden deshalb ein, dass die Vorläufer der Mehrzelligkeit, die Ratcliff und seine Mitarbeiter in experimentellen Hefestämmen beobachtet hatten, keine echte evolutionären Innovationen seien, sondern eher das Wieder-Auftreten eines Merkmals, das im Hefegenom bereits angelegt war.

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Lebenszyklus der im Labor evolvierten Vielzeller (c) Ratcliff et al. , CC-BY-NC

Volvox – ein primitiver Vielzeller und ein Verwandter von C. reinhardtii

Ratcliff sieht das zwar anders, aber vielleicht auch wegen solcher Einwände hat er sich nun eine Alge ins Labor geholt, die mit ziemlicher Sicherheit keine Vielzeller unter den unmittelbaren Vorfahren hat. Interessant ist Chlamydomonas reinhardtii aber auch deshalb, weil zu ihren näheren Verwandten die Algen aus der Gattung Volvox gehören – ein Lehrbuchbeispiel für die Evolution vielzelliger Organismen. Und besonders interessant aus der Perspektive der life history – Forschung ist natürlich der im Labor evolvierte zweiphasige Lebenszyklus der Algen-Stämme, mit Zell-Clustern, die  auf jeweils eine Gründer-Zelle zurückgehen.

Evolution von Vielzelligkeit galt lange Zeit als eine gewaltige Hürde in der Stammesgeschichte. Aber die vielfältigen Beispiele der experimentellen Evolutionsbiologen in verschiedenen Organismengruppen zeigen, dass zumindest eine einfache Form der Vielzelligkeit erstaunlich schnell evolvieren kann – sofern die besonderen selektiven Bedingungen dafür bestehen.